Das Haus an der Ecke in Wormditt
In der guten alten Zeit trafen sich die Wormditter zum Dämmerschoppen "im Haus an der Ecke"; es war der Gasthot "Deutsches Haus" an der Ecke des Marktplatzes gegenüber der Pfarrkirche. Im Zeitalter der Postkutschen hielten davor nicht nur die regulären Postwagen, sondern oft auch Extraposten und andere Fuhrwerke. Reisende Kaulleute hielten hier an wie auch fahrende Schauspieler und wandernde Künstler, Studenten und Hausierer. Stets gab es im Deutschen Haus gutes Bier und preiswertes Essen, da kehrte jeder Bürger gern ein. Daher ging es allen Wormdittern ans Herz, als der Gasthof an der Ecke im Jahre 1856 seine Tore schloß: der Kaufmann Karl Dargel hatte das Grundstück erworben. Die Wormditter kamen in der Folgezeit nicht um vor Durst, denn auf der gegenüberliegenden Ecke des Marktes entstand ein neuer Gasthof, der sich später Centralhotel nannte; alle auswärtigen Gäste konnten auch weiterhin ihre Wagen auf dem Marktplatz auffahren. Karl Dargel richtete In dem neu erworbenen Haus Schaufenster ein und zeigte den Wormdittern die neuesten Moden. Da seine Frau früh starb, mußten die Töchter schon in jungen Jahren mithelfen, und sie waren tüchtig. Auf die Dauer aber wollte Antonie, die Alteste, vom kaufmännischen Betrieb nichts wissen, daher wurde das Geschäft auf die zweite Tochter, Auguste, verschrieben. Und sie sollte früh unter die Haube kommen, dafür sorgte Antonie. Ohne Wissen der Schwester setzte sie eine Anzeige in eine Fachzeitschrift: "Gutgehendes Geschäft zu verkaufen, Einheirat möglich .. ." Da erschien der junge Westfale Bernhard Hettlage. Seine Familie stammte aus Mettingen im Tecklenburger Land, wo auch die Heimat der Brenningkmeyer ist; er hatte im Geschäft des Vaters zu Düsseldorf den Textilhandel gelernt und dann zusammen mit einem Vetter ein Geschäft in Greifenhagen in Pommern eröffnet. Als der junge Hettlage in Wormditt eintraf, ging es schnell: Liebe auf den ersten Blick, kurzer Briefwechsel, Verlobung und Hochzeit. Das war im Jahre 1884. Der junge Ehemann erwarb das Geschäft laut Kaufvertrag für 120 000 Mark, für jene Zeit eine ansehnliche Summe; Auguste Dargel steuerte ihr Vermögen dazu bei.
Bernhard Hettlage war eine kleiner, sehr rühriger Mann, ein kräftiger Vollbart gab ihm ein stattliches Aussehen. Seine Frau Auguste wird als sehr gewandte Geschäftsfrau geschildert. Westfälische und ostpreußische Tüchtigkeit hatten sich hier vereinigt. Der Westfale verstand sich gut mit den Ermländern. Der Umsatz stieg von Jahr zu Jahr, Hettlage fühlte sich recht wohl in Wormditt. Aber er litt an Asthma, und die "scharfe ostpreußische Luft" bekam ihm nicht. Außerdem hatte er großen Arger im Nachbarstädtchen Mehlsack. Dort hatte sich ein Verwandter niedergelassen, die beiden Vettern betrieben das Geschäft als offene Handelsgesellschaft. Der Mehlsacker Vetter wirtschaftete schlecht und machte pleite. Bernhard Hettlage haftete mit seinem Vermögen und mußte beim Konkurs große Zahlungen übernehmen. Damit war ihm der Osten verleidet. 1894 siedelte er nach Recklinghausen über. Hier erhielt er 1896 vom Kaiserlichen Patentamt ein geschütztes Warenzeichen auf die von ihm gefertigten "Hautjacken für Bergarbeiter". Trotzdem kam er in Recklinghausen nicht recht vorwärts, daher folgte er dem Ruf seines Bruders und traf in das väterliche Geschäft in Düsseldorf ein. Die Brüder Hettlage dürfen für sich in Anspruch nehmen, am Siegeszug der Fertigkleidung für Herren maßgebend mitgewirkt zu haben. In der Folgezeit haben die Mitglieder der Familie Hettlage in einer Reihe von Großstädten führende Kaufhäuser errichtet.
Auch in Wormditt bestand das ehemals Hettlagesche Textilhaus weiter; seit 1910 war es im Besitz von Leo Keuchel, der es durch Ankauf von zwei Nachbarhäusern erheblich erweiterte und modernisierte. Was die Firma Hettlage in den westdeutschen Großstädten bedeutet, das bedeutete die Firma Leo Keuchel im Ermland. Wie alle Häuser am Markt, so hatten auch die Keuchelsdien Häuser massive Vorlauben, ähnlich wie am Prinzipalmarkt in Münster. Da das große Eckhaus ursprünglich ein Gasthof war, hatte es ungewöhnlich große Kaller, die sich bis unter den Marktplatz ausdehnten. Darin lagerten in der guten, alten Zeit die Bierfässer. Zu Keucheis Zeiten bargen sie edle Tropfen vom Rhein und von der Mosel. Diese fielen im Januar 1945 ebenso wie die bunten Blusen den Sowjets in die Hände, Die Gebäude wurden arg zerschossen, die ganze Häuserreihe mit den malerischen Lauben ist völlig abgetragen. Der Marktplatz ist vergrößert, und damit hat sich das Stadtbild von Wormditt wesentlich geändert.
Nach der Vertreibung eröffnete Leo Keuchel trotz vieler Schwierigkeiten in Amberg (Oberpfalz) ein neues Textilhaus und führte nun den Bayern die neuesten Moden vor Das Haus lst natürlich größer und moderner als der Betrieh in Wormditt. Wenn dort Leoo Keuschel und seine Frau Agnes, geb. Poschmann, das Fest der goldenen Hochzeit begehen, werden sie mit Freunden und Verwandten von Wormditt sprechen und von dem „Haus an der Ecke".